Hintergrund
Etwa 5 Prozent der Bevölkerung leiden nach einer SARS-CoV-2 Infektion an postinfektiösen Beschwerden. Long COVID bzw. ein Post-COVID-19-Zustand kann sämtliche Organsysteme betreffen und bis zur vollständigen Pflegebedürftigkeit führen. 10 bis 50 Prozent aller Betroffenen erfüllen Diagnosekriterien für eine myalgische Enzephalomyelitis/ein chronisches Fatigue-Syndrom. Behandlungsempfehlungen beschränken sich bislang auf Belastungsmanagement und symptomatische, psychologische oder aktivitätssteigernde Maßnahmen (Physio- oder Bewegungstherapie). Erste Untersuchungen von Betroffenenperspektiven geben Hinweise auf eine unzureichende Anerkennung und Versorgung der Erkrankung.
Methode
Seit Juni 2023 können Long-COVID-Betroffene und deren Angehörige ihre Versorgungserfahrungen im Rahmen eines vom Bundesministerium für Gesundheit geförderten Projekts telefonisch oder online über ein Berichtsformular der Techniker Krankenkasse und der Deutschen Gesellschaft für Patientensicherheit melden. Von 1.216 bis Dezember 2023 eingegangenen Berichten wurden 264 inhaltlich repräsentative Fälle ausgewählt und anhand einer strukturierenden und zusammenfassenden Inhaltsanalyse ausgewertet. Ziel war, das Erleben Betroffener in Bezug auf Versorgungsbarrieren und deren Auswirkungen nachzuvollziehen.
Ergebnisse
Im vierten Jahr nach Pandemiebeginn fehlt es nach den Erfahrungen von Long-COVID-Betroffenen an Versorgungsstrukturen und kompetenten Ansprechpartnern aufseiten der Leistungserbringer und Leistungsträger. Spezialambulanzen für postvirale Syndrome sind für die Mehrheit der Befragten entweder nicht erreichbar, nehmen keine neuen Patienten auf oder haben Wartezeiten von bis zu zwei Jahren. Abgesehen davon, dass es bislang keine ursächlich wirksamen Therapien für postvirale Syndrome gibt, berichten 85 Prozent der Befragten, dass medizinische oder soziale Ansprechpersonen nicht ausreichend über das Krankheitsbild informiert sind. 80 Prozent geben an, dass ihre Symptome nicht ernst genommen und/oder als psychosomatisch eingestuft wurden.
In der Folge werden Betroffene nicht oder falsch behandelt und/oder erhalten keine angemessenen Sozialleistungen. 56 Prozent der Teilnehmenden berichten über eine Verschlechterung ihres Gesundheitszustands aufgrund ärztlich verordneter oder empfohlener Untersuchungen oder Behandlungen. Die Psychologisierung postviraler Symptome wird als stigmatisierend und als Hauptursache für die prekäre Versorgungssituation von Menschen mit Long COVID beschrieben.
Diskussion
Die Studie zeigt, dass es für postinfektiöse Erkrankungen bislang keine adäquaten Versorgungskonzepte und -strukturen gibt und dass aktivierende Therapien, meist im Zusammenhang mit der Annahme einer psychosomatischen Genese, zu einer maßgeblichen Fehlversorgung führen. Besonders dramatisch ist der Befund, dass sich die Mehrzahl der Befragten durch die behandelnden Ärztinnen bzw. Ärzte geschwächt, beschämt oder geschädigt fühlt. Die Daten geben zudem Hinweise auf eine systematische Stigmatisierung und Diskriminierung Betroffener. Die Generalisierbarkeit der Ergebnisse ist limitiert.
Schlussfolgerungen
Um eine adäquate medizinische und soziale Versorgung von Long-COVID-Betroffenen zu gewährleisten, sind eine zügige Aus- und Weiterbildung aller beteiligten Akteure, die Entwicklung und der Ausbau spezifischer Versorgungsangebote sowie ein Monitoring der Versorgungsleistungen dringend erforderlich.