- Im Original-Text befinden sich diverse Skizzen, die hier nicht wiedergegeben werden können -
Menschen mit schweren Behinderungen haben erhebliche Schwierigkeiten, einen Arbeitsplatz zu finden. Das Bewusstsein, dass auch sie sich arbeitend für andere Menschen einsetzen und sich selbst dabei entwickeln wollen, ist noch nicht sehr verbreitet.
In vielen anthroposophisch orientierten Einrichtungen der Sozialtherapie ist es übliche Praxis, dass Menschen mit schweren Behinderungen am Werkstattleben teilnehmen. Dabei wird vor allem der soziale Aspekt sehr hoch bewertet. Zugleich wird versucht, selbstständige Arbeit dort zu ermöglichen, wo sie gewollt und möglich ist. Erfahrungsgemäß haben Menschen mit schweren Behinderungen nur wenige Möglichkeiten, selbstständig zu arbeiten. Selbst elementare Arbeitsbewegungen und eingliedrige Arbeitsschritte bleiben für sie oft unüberwindliche Hürden.
Der Zugang zur Arbeit wird aber möglich, wenn folgende Grundsätze beachtet werden:
1. Das Prinzip der gemeinsamen Arbeit
Da Menschen mit schweren Behinderungen meist nur mit Hilfe eines Begleiters arbeiten können, ist das Gelingen ihrer Arbeit wesentlich von der Einstellung und den Fähigkeiten des Begleiters abhängig. Dort, wo der Begleiter sich nur als Helfer defi niert, rückt die Behinderung in den Vordergrund. Dort, wo sich der Begleiter zugleich als Kollege versteht, wo er wirkliches Interesse an der gemeinsamen Produktion oder Dienstleistung aufbringt, entsteht ein tragfähiger sozialer Arbeitszusammenhang.
2. Das Prinzip der individuellen Arbeitsbewegung
Die Arbeitsplätze müssen auf die oft sehr eingeschränkten Bewegungsfähigkeiten beziehungsweise auf die speziellen Bewegungsbedürfnisse von Menschen mit schweren Behinderungen ausgerichtet werden. Man wird stets versuchen, elementare handwerkliche Arbeitsgesten auszuführen, wo dies möglich ist. Um sich aber nicht allzu enge Grenzen zu setzen, ist es erforderlich, sich zeitweise von den traditionellen Arbeitsgesten abzulösen.
Wie diese Prinzipien im Arbeitsalltag angewendet werden können, soll nun am Beispiel von Schleifarbeiten in einer Schreinerei gezeigt werden. Die Beispiele stammen aus einer inzwischen elfjährigen Praxis in der Sozialtherapeutischen Lebens- und Arbeitsgemeinschaft „Am Bruckwald“ in Waldkirch.
Traditionelle Schleifbewegung
Der in Schreinereien übliche Schleifvorgang - soweit er in Handarbeit durchgeführt wird - bildet den Ausgangspunkt. Das Geschehen an diesem Arbeitsplatz können wir in drei Schritten beschreiben:
Das Ziel der Arbeit
Die ausgehobelten Bretter werden entsprechend den für das Produkt geltenden Qualitätsanforderungen geschliffen. In Bezug auf das Ziel der Arbeit ist der Arbeitende ganz auf das Endprodukt und damit auf den anderen Menschen (Kunde) ausgerichtet.
Die Arbeitsbewegungen
Der Schreiner bewegt den mit Schleifpapier bestückten Schleifklotz auf dem Brett hin und her. Er steht dabei seitlich an der Werkbank im Ausfallschritt. Indem er sein Körpergewicht vor und zurück verlagert, erweitert er den Aktionsradius seiner Hand. Dabei achtet er stets auf die richtige Führung des Schleifklotzes. In der Arbeitsbewegung bringt der Arbeitende seine Fähigkeiten ein und entwickelt diese weiter.
Der Arbeitsprozess
Um das Arbeitsergebnis in der gewünschten Qualität zu erhalten, wird der Schleifklotz genau in Richtung der Holzmaserung geführt. Der Arbeitende übt einen angemessenen Druck auf das Werkstück aus und achtet darauf, dass sich kein Schleifstaub unter dem Schleifklotz ansammelt, da sonst das Schleifergebnis negativ beeinflusst wird. Im Arbeitsprozess ist der Arbeitende ganz von den Gesetzmäßigkeiten des Materials und der Werkzeuge abhängig, die er richtig anwenden muss. Für Mitarbeiter, die aufgrund ihrer Behinderung diese traditionelle Arbeitsgeste nicht beziehungsweise noch nicht ausführen können, modifizieren wir im folgenden die Arbeitsbewegung. Dabei bleibt gewährleistet, dass alle Qualitätsanforderungen, die im Ziel der Arbeit vorgegeben sind, erreicht werden und der Arbeitsprozess allen fachlichen Anforderungen genügt.
Erste Variation der Schleifbewegung
Der Schleifklotz wird durch einen größeren ersetzt, an dem wir zwei Griffe anbringen. Der Arbeitende kann den Schleifklotz sicher mit einem Faustgriff festhalten. Der Begleiter steht dem Arbeitenden gegenüber (Skizze 2)
- Er unterstützt und führt die Arbeitsbewegung. Wird ein langer Schleifklotz eingesetzt, kann der Begleiter die Arbeitsbewegung hinter dem Arbeitenden unterstützen. Die Schleiffläche des langen Schleifklotzes ist unterbrochen, damit der Schleifstaub an die Seite geführt wird und nicht das Schleifpapier verklebt (Skizze 3)
- Die Arbeitsbewegungen in Skizze 2 und 3 unterscheiden sich noch nicht wesentlich von der traditionellen Schleifbewegung. Der Arbeitende schleift im Stehen oder - wenn dies möglich ist - mit rhythmischer Gewichtsverlagerung durch einen Ausfallschritt.
Zweite Variation der Schleifbewegung
Der Schleifklotz wird nun so erweitert, dass er in einer Arbeitsvorrichtung über das zu schleifende Brett geführt werden kann. Durch diese Arbeitshilfe können Menschen arbeiten, die zu grobmotorischen Bewegungen imstande sind, aber feinmotorische Bewegungen und umfangreiche Koordinationsleistungen nicht erbringen können. Die Arbeitsbewegungen und die Hilfestellungen des Begleiters bleiben unverändert (Skizze 4).
Dritte Variation der Schleifbewegung
Die Arbeitsvorrichtung wird in den freien Raum gestellt. Der Arbeitende kann nun an ihr entlanggehen und den Schleifklotz dabei schieben oder ziehen (Skizze 5). Der Begleiter unterstützt die Bewegung, indem er vor oder hinter dem Arbeitenden den Schleifklotz mitbewegt oder den Arm beziehungsweise Ellenbogen des Arbeitenden stützt (Skizze 6). (Der Schleifklotz wird wie in der zweiten Variation durch die Arbeitshilfe geführt. Auf eine Darstellung der Führung wird in den nachfolgenden Abbildungen verzichtet) Bei der folgenden zweifachen Anordnung kann der Arbeitende die Schleifbewegungen gleichzeitig mit dem rechten und linken Arm ausführen (Skizze 7).
Vierte Variation der Schleifbewegung
In der vierten Variation wird die Arbeitsvorrichtung im Winkel von 45 an die Wand montiert. Der Schleifklotz wird durch ein Seil nach oben gezogen. Zusätzliche Gewichte, die auf dem Schleifklotz befestigt werden, gewährleisten den notwendigen Druck auf das Brett. Das Seil wird über zwei Umlenkrollen gelegt und an einer Haltestange befestigt. Die Arbeitsbewegungen, die der Arbeitende nun ausführt, haben sich erheblich verändert: Er steht vor dem zu schleifenden Brett und bewegt beide Arme parallel von oben nach unten (Skizze 8). Die Aufwärtsbewegung der Arme wird durch das Gewicht des Schleifklotzes unterstützt, der den Schleifklotz auf der schiefen Ebene nach unten, die Haltestange nach oben zieht. Die Beine stehen parallel oder im leichten Ausfallschritt. (Der Schleifklotz wird entsprechend der zweiten Variation durch die Arbeitshilfe geführt. Auf eine Darstellung der Führung wird im folgenden wieder verzichtet.) Der Begleiter kann die Bewegung in verschiedenen Positionen unterstützen (Skizze 9).
Fünfte Variation der Schleifbewegung
Durch die Verwendung eines Zugseiles löst sich die Arbeitsbewegung von ihrer ursprünglichen Geste. Dabei eröffnet sich ein weites Feld von Bewegungsmöglichkeiten. Die parallel geführte Armbewegung kann zu einer abwechselnden Bewegung des rechten und linken Armes modifi ziert werden. Dies wird erreicht, indem zwei Bretter gleichzeitig geschliffen werden, wobei die Schleifklötze miteinander über ein Seil verbunden sind (Skizze 10). Die Arbeit kann auch in der folgenden Weise durchgeführt werden: siehe Skizze 11. Wenn es notwendig ist, kann der Begleiter die Arbeitsbewegungen hinter dem Arbeitenden unterstützen (Skizze 12).
Weitere Variationen der Schleifbewegung
Die Arbeitsbewegung kann weiter entwickelt werden, indem man ein Schwungrad mit einbezieht, das die Arbeitsbewegung an den Wendepunkten abbremst beziehungsweise beschleunigt, während sich die Bewegung im mittleren Teil fast von selbst vollzieht. Ebenso lassen sich Übersetzungen einbauen, wenn dies aus individuellen Gesichtspunkten sinnvoll ist. Auch kreisende Bewegungen der Arme oder der Füße (zum Beispiel < Fahrradfahren>) sind möglich. Der Zugang zu diesen Arbeitsplätzen ist auch für Rollstuhlfahrer oder Liegerollstuhlfahrer (Skizze 13) gegeben oder für Arbeitende, die nur mit den Füßen arbeiten können (Skizze 14).
Ergreifen des Raumes
In den Variationen der Arbeitsbewegung wird die traditionelle Schleifarbeit zu grobmotorischen und rhythmischen Arbeiten umgewandelt. Die Arbeit wird so modifiziert, dass der Arbeitende die Raumesrichtungen in jeweils differenzierter Weise ergreift. Die Dimension des Oben-Unten wird am stärksten in der vierten Variation zum Erlebnis, die Dimension des Rechts-Links wird in der fünften Variation am stärksten betont.
Die Dimension des Vorne-Hinten kommt in der dritten Variation am stärksten zum Ausdruck. Ausgangspunkt für diese Bemühungen ist ein Hinweis Karl Königs, der auf die Einsamkeit des bewegungsgestörten Menschen aufmerksam macht. Er ist ein „einsamer Mensch", „weil er an allem, was die Erde uns unmittelbar bietet, in Schwere und Licht, Luft, Wärme und Kälte, in Leben und Klang, in Werden und Vergehen nur minimalen Anteil hat, weil er durch den Verlust der Gliedmaßentätigkeit nicht in die dreifache Gestalt des Raumes eingeordnet ist. „Um den Menschen seiner Einsamkeit zu entreißen, müssen wir Wege suchen, das Oben-Unten, Rechts-Links, Vorne-Hinten „künstlerisch, schöpferisch".
Individuelle Zugänge zur Arbeit
Mit den vorgestellten Arbeitshilfen und der entsprechenden Begleitung sind individuelle Zugänge zum Arbeitsplatz auch dort möglich, wo sie bisher an der Art oder Schwere der Behinderung gescheitert sind.
- Der Zugang zur Arbeit für Menschen, deren körperliche Beweglichkeit sehr eingeschränkt ist, erfolgt mit Arbeitsbewegungen, die der Arbeitende sicher und gut ausführen kann und die ihm keine Unannehmlichkeiten bereiten. In aller Ruhe kann versucht werden, die Grenzen der Bewegungsfähigkeit zu erkunden und soweit wie möglich auszuweiten. Am Arbeitsplatz der vierten Variation zum Beispiel können die Arbeitsbewegungen ganz im Brustbereich beginnen und allmählich nach oben oder unten ausgreifen.
- Liegt eine Willensschwäche vor, beginnt der Begleiter mit kleinen und sehr behutsamen Arbeitsbewegungen. Durch Rhythmisierung der Bewegung kann der Arbeitende in das Erlebnis der Arbeitsbewegung eintauchen und sie allmählich eigenaktiv ergreifen.
- Die Berührung mit Werkzeugen kann zu Beginn für den Arbeitenden unangenehm und angstauslösend sein. Dieses Hindernis kann manchmal überwunden werden, wenn es zugleich mit der Berührung zur Bewegung kommt. Wenn aber die Bewegung diesen unmittelbaren Aufforderungscharakter nicht ausübt oder sogar selbst zu Beginn Unsicherheiten hervorruft, wird die Auflage der Hand auf dem Schleifklotz oder am Seilzug in einem langfristigen Prozess vorbereitet. Durch den Einsatz von verschiedenen Formen oder Materialien am Griff des Schleifklotzes und eine sehr behutsame Handführung wird angestrebt, dass der Arbeitende die Berührung als angenehm und sinnvoll erleben kann.
- Menschen, die ängstlich und unwillig auf alle Veränderungen reagieren, brauchen vor allem Zeit, um sich am neuen Arbeitsplatz zurechtzufinden. Das tägliche Üben über einen langen Zeitraum - vom Begleiter als Angebot verstanden - hilft, die Ängste zu überwinden.
- Für Menschen, die nur schwer in ihrer Bewegung innehalten können, ist es hilfreich, wenn die Arbeit mit engagierten Bewegungen beginnt. Dieser Notwendigkeit kann vor allem in der dritten Variation entsprochen werden. Der übersteigerte Bewegungsdrang ist ein zwar unvollkommener, aber oft der einzig mögliche Versuch des Menschen, ein Gleichgewicht zwischen sich und seiner Umwelt aufrechtzuerhalten. Der Begleiter bemüht sich, über eine verstärkte Harmonisierung und Rhythmisierung der Arbeitsbewegungen Sicherheit und Ruhe in den Bewegungsablauf einkehren zu lassen.
- Für Menschen, die zu Selbst- und Fremdverletzungen neigen, lassen sich nur schwer allgemeingültige Aussagen über einen erfolgversprechenden Zugang zur Arbeit treffen, da die Ursachen für das Verhalten sehr vielfältig sind. Aggressionen und Autoaggressionen traten in den letzten elf Jahren in der Werkstatt „Am Bruckwald“ immer wieder auf in Form von Zerschlagen von Fenstern, Umwerfen der Hobelbänke, Kratzen und Beißen und ähnlichem mehr. Dennoch hat es in dieser Zeit keine (!) Fremd- oder Selbstverletzung durch ein Werkzeug gegeben. Wir halten diese Erfahrung für sehr aussagefähig.
- Die Führung des Schleifklotzes in der zweiten und dritten Variation bietet sich an, wenn der Arbeitende immer wieder die Früchte seiner eigenen Arbeit durch Schlagen des Werkzeuges auf das Brett zerstört.- Für Menschen, die zu Stereotypien und zu zwanghaftem Verhalten neigen, ist der Prozess der Rhythmisierung und Harmonisierung von Bewegungen sehr bedeutsam. Stereotypien und Zwänge werden sich stets in der Arbeit äußern. Anfangs können sie sich sogar verstärken. Je mehr aber der Arbeitende sich intentional in der Arbeit engagieren kann, um so größer wird der Raum, der von Zwängen und Stereotypien frei ist.
- Wenn Menschen sich aus sozialen Zusammenhängen herausziehen (müssen), kann es notwendig werden, einen Arbeitsplatz in einem ruhigen Raum zu installieren. Nachdem das Interesse an der Arbeit geweckt beziehungsweise wiederhergestellt wurde und die Arbeitsgewohnheit als Hilfe erlebt wird, kann der Arbeitsplatz in eine kleine und überschaubare Arbeitsgruppe zurückverlagert werden.
Die Einwände
Die Anwendung dieser Arbeitsplätze ist in sozialtherapeutischen Werkstätten nicht unumstritten. Es soll hier in aller Kürze versucht werden, auf die wichtigsten Einwände einzugehen:
Einwand 1:
Durch die räumliche Distanz von Arbeitsbewegung und Arbeitsprozess geht dem Arbeitenden das Erlebnis des zu bearbeitenden Materials verloren. Die Wirkung seines Tuns kommt ihm nicht zu Bewusstsein. Der Zusammenhang zwischen menschlicher Arbeitsbewegung und deren Wirkung kommt in den traditionellen Arbeitsgesten tatsächlich am unmittelbarsten zum Ausdruck. Sie fördern in hohem Masse Eigen-, Werkzeug-und Materialerfahrung des Arbeitenden.
Auch für Menschen mit schweren Behinderungen sind traditionelle Arbeitsgesten von großer Bedeutung und es ist für alle Beteiligten stets ein besonderes Erlebnis, wenn eine Arbeitsgeste erlernt werden konnte. Auf die beschriebenen Arbeitshilfen wird zurückgegriffen, wenn die Arbeitsgesten nicht oder noch nicht ausgeführt werden können oder um einer Tendenz zur Einseitigkeit und Eintönigkeit im Werkstattalltag entgegenzuwirken. Das Erlebnis der Arbeit an den Arbeitshilfen ist zwar - wie gewünscht - von anderer Qualität, jedoch nicht weniger intensiv als bei traditioneller Herangehensweise.
Einwand 2:
Die Arbeitsgesten des Handwerkes werden durch diese Arbeitshilfen zerstört. Die Arbeitsgesten werden nicht durch Arbeitshilfen solcher Art aus den Werkstätten verdrängt (siehe auch Anmerkung zum Einwand 1). Die traditionellen Arbeitsgesten sind insgesamt - auch in anthroposophisch orientierten Werkstätten - auf dem Rückzug. Sie werden zunehmend durch mechanisierte oder maschinelle Arbeit ersetzt. Der Einsatz von Mechanik und Maschinentechnik ist ein Merkmal der Arbeit unserer Gegenwart. Es spricht daher nichts dagegen, diese auch im Umfeld von Menschen mit schweren Behinderungen einzusetzen. Wenn aber weder die traditionelle Arbeitsgeste noch die zeitgemäße maschinelle Verarbeitung von Menschen mit schweren Behinderungen ergriffen werden kann, drängt sich eine Frage auf, die Zukunftscharakter hat und die zunehmend an Bedeutung gewinnt: Wie muss die Arbeit gestaltet werden, damit der Mensch sich in ihr zur Darstellung bringen kann? Das Bemühen um die vorgestellten Arbeitsplätze geht von dieser Fragestellung aus.
Einwand 3:
Der Einsatz moderner Technologie wird nicht berücksichtigt, obwohl sie bewegungseingeschränkten Menschen zu höherer Produktivität verhelfen kann. Es gibt eindrucksvolle Beispiele, wie bedeutend es für bewegungseingeschränkte Menschen sein kann, eine Maschine zu bedienen und an einer entsprechend hohen Produktivität teilzuhaben. Auch hier können die vorgestellten Arbeitshilfen eine Ergänzung sein, auf die in einem jahrelangen Berufsleben von Menschen mit schweren Behinderungen immer wieder zurückgegriffen werden kann. Der Einsatz von Maschinen steigert die Produktivität, der Einsatz solcher Arbeitshilfen rückt das Erlebnis der Arbeit selbst in den Vordergrund. Eine zeitgemäße Arbeitsplatzgestaltung muss beide Aspekte berücksichtigen.
Einwand 4:
Die Tätigkeit an den Arbeitshilfen ist weniger eine produktive als eine therapeutische. Dieser oft erhobene Einwand ist im Grunde erfreulich, weil er die entwicklungsfördernde Wirkung dieser Arbeit anerkennt. Arbeit so zu verändern, dass sie für den Menschen in körperlicher, seelischer und geistiger Hinsicht förderlich wird, ist eine Notwendigkeit zukünftiger menschlicher Entwicklung. Sie wird in gegenwärtigen Verhältnissen leider allzu oft noch als Therapie im Sinne einer Nicht-Arbeit angesehen.
Einwand 5:
Individuelle therapeutische Hilfen erhalten Menschen mit schweren Behinderungen von ausgebildeten Therapeuten und nicht von Begleitern in der Arbeit. Menschen mit schweren Behinderungen sind auf umfangreiche therapeutische Hilfen von Fachkollegen angewiesen. Oft erleben wir, dass mehr therapeutische Hilfe benötigt wird, als angeboten werden kann. Je mehr aber die produktive Arbeit selbst therapeutische Aspekte enthält, um so mehr kann sich der Arbeitende von einem Lebensbereich ablösen, in dem er „therapeutisch“ auf sich selbst bezogen ist, und stärker in einem anderen Lebensbereich wirksam werden, in dem er arbeitend über sich hinausgehen und sich auf andere Menschen beziehen kann.
Werden alle in den Schleifvariationen liegenden Möglichkeiten ausgeschöpft und die Bemühungen über Jahre hinweg aufrechterhalten, kann sich der Arbeitende in seinem Berufsalltag ganzheitlich entfalten: Auf körperlicher Ebene wird die Bewegungsfähigkeit erkundet, ihre Ausdifferenzierung gefördert oder deren Einschränkung entgegengewirkt. Auf seelischer Ebene wird angeregt, eigene Grenzen zu erfahren, zu akzeptieren und wenn möglich auszuweiten. Harmonische und zielgerichtete Bewegungen treten an die Stelle von Unbeweglichkeit oder Bewegungschaos. Teilnahmslosigkeit wird zum Interesse für die Welt und Resignation zum Mut. Auf der geistigen Ebene erringt der Arbeitende Bewusstsein und Ich-Erleben. Er wächst über sich hinaus und orientiert sich vom Ich zum Du.
Was hier exemplarisch für Schleifarbeitsplätze in der Schreinerei aufgezeigt wird, ist auch an anderen Arbeitsplätzen in der Schreinerei und in anderen Gewerken anwendbar. Die Werkstatt „Am Bruckwald“ verfügt über eine mehrjährige Praxis auch in anderen Handwerksbereichen. Inzwischen werden die Vorteile dieser Arbeitsweise zeitweise auch dann eingesetzt, wenn keine schwere Behinderung vorliegt. Die Arbeitshilfen ermöglichen, dass selbstständige betreute Mitarbeiter ihre schwerbehinderten Kollegen am Arbeitsplatz begleiten können. Gleichzeitig wird ein künstlerisch-kreatives Bewegungselement am Arbeitsplatz und in der Werkstatt eingeführt, das dem Werkmeister einen großen Gestaltungsraum eröffnet. Das Ergebnis dieser Arbeitsweise ist eine stärkere Integration von Menschen mit schweren Behinderungen am Arbeitsplatz, ein intensiveres Erlebnis der Zusammenarbeit und vor allem mehr Beweglichkeit und Bewegungsfreude für alle.
Literatur
1 Karl König: Heilpädagogische Diagnostik. Natura Verlag Arlesheim, 1983,
S. 37
2
ebd.,
S. 38