Am Beispiel von RESCU (Simbabwe) wird aufgezeigt, wie geistig- und körperlich behinderte Arbeiter bei der Rollstuhlproduktion so kooperieren, dass sich ihre Behinderungen gegenseitig aufheben, sie gut verdienen und 90 Prozent ihres Einkommens selbst erwirtschaften können. Der Autor stellt die Forderung, die Produktion von Rollstühlen und Gehhilfen auch in Europa Behindertenwerkstätten zu übertragen.
RESCU (RESCU Wheelchair Centre for Africa) in Simbabwe ist eine, von einer Elterninitiative getragene, beschützende Werkstätte und eine Rollstuhlfabrik zugleich, die von 65 geistig- und körperlich behinderten jungen Menschen mit Stolz und Befriedigung betrieben wird. RESCU hat sich in den letzten 15 Jahren aus der Zusammenarbeit von schwarzen und weißen Menschen, von körperlich- und geistig behinderten Menschen, zu der heutigen Fabrik entwickelt.
Pro Jahr werden 500 erstklassige Rollstühle und mehrere hundert Gehhilfen produziert, die in Simbabwe oder im benachbarten Ausland verkauft werden. Dies schafft für die Menschen mit Behinderungen ein durchschnittliches Einkommen, welches weit über dem Einkommen von nichtbehinderten Farmarbeitern oder Gärtnern liegt.
Die körperlich behinderten Arbeiter haben neben ihrer Arbeit noch zusätzlich die Aufgabe, die geistig behinderten Kollegen anzuleiten und im Auge behalten. Die Belegschaft von RESCU setzt sich zu einem Drittel aus körperlich behinderten Menschen und zu zwei Dritteln aus Menschen mit einer geistigen Behinderung zusammen.
Da alle Arbeiter körperliche oder sonstige Probleme haben, sind sie natürlich auf gegenseitige Hilfe angewiesen. Dies schafft ein einzigartiges und lockeres Arbeitsklima, weil einander zu helfen, sicher ein tiefes menschliches Bedürfnis ist und große Befriedigung schafft. Da im Prinzip alle Menschen zwar unterschiedliche, doch gleichviel Begabung besitzen, gilt es die versteckten Talente der behinderten Arbeiter zu finden und die unterschiedlichen Talente dann so zu Teams zusammenzustellen dass sich die „Defizite“ gegenseitig aufheben.
Durch den Verkauf von selbstproduzierten Rollstühlen und Gehhilfen sowie durch Einnahmen der Reparaturabteilung werden 90 Prozent der laufenden Einnahmen bestritten. 8 Prozent werden vom Staat beigesteuert und weitere 2 Prozent kommt von Spenden.
A. Geschichtliche Entwicklung von RESCU
RESCU entstand aus einem, von einer Elterninitiative getragenen Kindergarten für Kinder mit Behinderungen. Als die Kinder dann zu Jugendlichen heranwuchsen, wurde natürlich versucht, diese in Betrieben oder Schulen zu vermitteln. Zu einem gewissen Teil gelang es sogar, viele Jugendliche mit einer Körperbehinderung zu vermitteln, doch es erwies sich als aussichtslos, die Jugendlichen mit einer geistigen Behinderung unterzubringen, weshalb diese mehr oder weniger übrigblieben.
Beschützende Werkstatt für Menschen mit Behinderungen
Nun lag es nahe, eine beschützende Werkstatt für Menschen mit Behinderungen zu gründen, was auch getan wurde. Diese Werkstatt versuchte, sich mit Auftragsarbeiten wie Abzählen und Abpacken von Büroklammern
usw. sowie mit einer Holzspielzeugproduktion über Wasser zu halten. Dieser Versuch entpuppte sich als schwierig, weil:
- die Aufträge und produzierten Produkte viel zu wenig Einkommen einbrachten;
- der staatliche Zuschuss viel zu gering war;
- die professionellen Anleiter aus dem erzielten Einkommen und dem staatlichen Zuschuss nur zum kleinen Teil bezahlt werden konnten. Der Hauptanteil musste von den Eltern beglichen werden.
Produkte für Menschen mit Behinderungen produziert von Menschen mit Behinderungen
Da in dieser Zeit Sanitätsartikel wie Gehhilfen, Rollstühle, Duschstühle
usw. schwer erhältlich waren, wurde die Idee geboren, diese Produkte herzustellen und zu vermarkten. Um zunächst die Konkurrenz fern zu halten, wurde das Motto kreiert „ Produkte für Menschen mit Behinderungen produziert von Menschen mit Behinderungen". Es entstand ein politischer Anspruch, dass der Markt für Artikel, welche von Menschen mit Behinderungen gebraucht werden, ausschließlich von behinderten Arbeitern bedient werden und Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen schaffen sollte. Dieser Anspruch hat sich jahrelang in Reinform erhalten und wird in Simbabwe noch heute, trotz offener Grenzen, zu über 50 Prozent eingehalten.
Einer der Väter, ein Ingenieur, wurde angestellt, um eine entsprechende Produktion mit Hilfe von technischen Anleitern aufzunehmen. Nun nahm zwar das Einkommen sichtbar zu, doch die vielen Anleiter verschlangen den Löwenanteil, so dass für die geistig behinderten Arbeiter nichts mehr übrigblieb.
Die Rolle der körperlich behinderten Arbeiter
In dieser Situation hatte einer der Väter die geniale Idee, dass die körperlich behinderten Mitarbeiter als Anleiter fungieren könnten. Jeder dieser körperlich behinderten Anleiter sollte für zwei geistig behinderte Arbeiter verantwortlich sein. Rasch wurde das Klientel, welches ausschließlich aus geistig behinderten Menschen bestand, um ein Drittel körperlich behinderter Menschen erweitert. Diese waren in vielen Fällen handwerklich ausgebildet und durch den Bürgerkrieg zu Landminenopfern geworden.
Für das Klientel von ursprünglich 70 behinderten Arbeitern wurde ein Stamm von zwei nichtbehinderten Anleitern plus einem Werkstattleiter behalten. Die anderen Anleiter wurden nicht mehr benötigt, aber eine Physiotherapeutin neu eingestellt.
Fabrik und Spielplatz zugleich
Der Vater mit dieser guten Idee wurde Geschäftsführer der Werkstatt. Er hatte noch weitere ungewöhnliche Vorstellungen und Forderungen. So sollten einerseits die Menschen mit Behinderungen so produktiv sein, dass sie einen Lohn in Höhe des Mindestlohns für gesunde Arbeiter verdienen konnten. Andererseits sollte die Produktion durch positive Stimulation erreicht werden. Die Metallwerkstatt sollte einerseits Fabrik und Spielplatz zugleich sein, doch andererseits die laufenden Kosten selbst erwirtschaften. Das Werkstattgebäude samt Einrichtung konnte schon bald, dank großzügiger Spenden von Hilfsorganisationen, 1982 erstellt werden. Der Bauplatz wurde von der Stadt Harare pachtfrei für 99 Jahre zur Verfügung gestellt.
Produktion
Die Produktion von Rollstühlen und anderen Sanitätsartikeln lief gut an. Der Verkauf florierte und alle Rollstühle konnten, obwohl es damals noch Qualitätsmängel gab, leicht verkauft werden, weil es im ganzen Land keine Konkurrenz gab. Alle Produkte wurden aus lokalen Rohstoffen mit angepasster Technologie und sehr arbeitsintensiv hergestellt. Nun wurde erkannt, dass noch das Design verbessert werden musste. Deshalb wurde der weltweit bekannteste Rollstuhldesigner Ralf Hotchkiss aus San Franzisko engagiert, der bei RESCU einen Einführungskursus im Rollstuhlbau durchführte.
Nach diesem wurden nacheinander verschiedene Entwicklungshelfer angefordert, die ihre Ideen für die Verbesserung der produzierten Gehhilfen,
usw., einbrachten. Ferner gab es natürlich schon bald Rückmeldungen der Kunden, die auf Schwachpunkte aufmerksam machten. Entsprechende Nachbesserungen wurden laufend in das jeweilige Design eingearbeitet. Schon nach wenigen Jahren war die Werkstatt so produktiv, dass der Durchschnittslohn der verschieden behinderten Arbeiter dem Mindestlohn für nichtbehinderte Farmarbeiter entsprach.
Produktion mit Arbeitern mit Behinderungen Produzieren mit Menschen mit Behinderungen setzt andere edingungen voraus, was wiederum ein anderes Zusammenarbeiten bedingt, als man von normalen Werkstätten gewohnt ist. Menschen mit Behinderungen in der Dritten Welt haben fast immer, bedingt durch die Umstände ihrer Behinderung, weniger schulische und weniger berufliche Bildung genossen. Oft ist die erhaltene Bildung dazu noch sehr lückenhaft.
Die angebotene Arbeit muss dem Rechnung tragen, sie muss leicht verständlich und durchschaubar sein. Wenn die geleistete Arbeit als Mosaiksteinchen am fertigen Produkt, als kleines Teil vom Ganzen, erkannt wird, ist dies für die Arbeitsmotivation eigentlich eine ideale Voraussetzung. Ein kleines aber wichtiges Rädchen im großen Getriebe zu sein und sich in dem Rhythmus der Produktion zu befinden, ist für die Entwicklung der Persönlichkeit ungemein förderlich. Bei RESCU funktioniert dies. Jeder Arbeiter ist mit viel Selbstwertgefühl immer stolz darauf, Besuchern zu zeigen, welche Teile am fertigen Rollstuhl von ihm gefertigt wurden.
Serienproduktion
Für Arbeiter mit einer geistigen Behinderung eignet sich vor allem Serienproduktion (Massenherstellung), dies hat sich auch bei RESCU gezeigt. Für Arbeiten wie Sägen, Bohren, Biegen und Schweißen gibt es spezielle Vorrichtungen, welche so konstruiert sind, dass es fast nicht mehr möglich ist, einen Fehler zu machen. Beim Schweißen ist das zum Beispiel so: Sind die zu schweißenden Teile zu lang geraten oder falsch gebogen, passen sie nicht in die Halterung. Sind sie zu kurz, fallen sie durch. Es ist nicht möglich, Löcher an der falschen Stelle zu bohren. - Vorrichtungen dieser Art sind elementar für den Einsatz von Arbeitern mit einer geistigen Behinderung und erklären, warum Einzelanfertigungen nicht geleistet werden können. Es lohnt sich nicht für geringe Stückzahlen eine extra Vorrichtung zu bauen.
Bei der Produktion mit behinderten Arbeitern hatten wir erstaunlicherweise bedeutend weniger Unfälle und Verletzungen, wie dies von vergleichbaren Produktionsstätten mit gesunden Arbeitern zu erwarten gewesen wären (die stressfreie Arbeitssituation ist meines Erachtens dafür ausschlaggebend). Die Abfall- Schrottproduktion war stattdessen wesentlich höher als normal und erreichte etwa 5 Prozent und manchmal auch mehr. Da viele Menschen mit Behinderungen nur 5-6 Stunden pro Tag produktiv sein können, liegt die tägliche RESCU Nettoarbeitszeit bei 6,5 Stunden.
Schweißen
Der Umgang mit Elementen, wie Feuer, Wasser, Erde, Luft wie auch Tiere, eignet sich besonders als Medium für die Arbeit mit Menschen mit Behinderungen. Bei der Metallarbeit hatten wir vor allem durch das Schweißen eine besondere Fördermöglichkeit. Während bei gesunden Arbeitern Schweißen eher unbeliebt ist, war es bei RESCU´s geistig behinderten Arbeitern die beliebteste Tätigkeit. Manche hatten einen so dicken psychischen Schutzpanzer, dass sie fast unansprechbar waren, doch das Feuer vom Schweißen drang durch und brachte ihnen dann größten Spaß und Befriedigung; sie waren dann „Herr über das Feuer". RESCU´s beste Schweißer sind Menschen mit einer geistigen Behinderung. Gasschweißen (Hartlöten) wurde ihnen in einem einwöchigen Schweißkurs beigebracht. Dann brauchte es normalerweise etwa einen Monat, bis sie das entsprechende Werkstück gut schweißen konnten, doch dann war es gekonnt. In der Regel ist ihre Fähigkeit gut zu schweißen, jedoch nur auf ein Werkstück reduziert, weil sie oft Schwierigkeiten haben, die erlernte Tätigkeit auf eine andere Sache zu übertragen.
Einander helfen
Eine Arbeitssituation, bei der alle Arbeiter einander helfen müssen (dürfen), bewirkt eine unwahrscheinliche Stimulation und Motivation bei der Arbeit. Einander helfen ist ein tiefes menschliches Bedürfnis und sehr befriedigend. Bei vielen (geistig) behinderten Menschen funktioniert dies noch natürlicherweise und wir „Gesunden“ können noch viel von ihnen lernen.
Bei RESCU sind nur zwei Anleiter nicht behindert. Den körperlich behinderten Anleitern fehlt entweder ein Arm, oder Bein, oder sie sind Rollstuhlfahrer, blind, taub
usw. Diese wiederum sind auf die geistig behinderten Arbeiter laufend angewiesen, welche zum Beispiel starke Arme und Beine haben, die für bestimmte Arbeiten unerlässlich sind. Kurzum die geistig behinderten Arbeiter sind gefragt und ein unverzichtbarer Bestandteil der Produktion. Umgekehrt können die geistig Behinderten nicht arbeiten ohne die körperlich oder sensorisch behinderten Menschen, welche ihnen die Arbeit angeben, sie anleiten und ihre Arbeit überwachen. Interaktion und sich gegenseitig helfen sind die elementaren Bindeglieder für diese Art von Arbeit, welche viel Spaß macht und sehr befriedigend ist.
Der Schlüssel zur Serienproduktion mit Arbeitern mit gemischten Behinderungen ist, die Teams so zusammenzustellen, dass die Behinderungen sich gegenseitig ergänzen. Diese Teams sind möglicherweise dann sogar noch produktiver als nichtbehinderte Teams, weil die Stärken, welche Menschen mit Behinderungen natürlicherweise haben, oft überdurchschnittlich ausgebildet sind. In der Regel haben geistig behinderte Menschen den unschätzbaren Vorteil, dass es ihnen nie zu eintönig wird, immer dieselbe Arbeit ohne Veränderung zu tun. Wir beobachteten, wie sie bei jeder Produktionsumstellung schimpften und sich oft hilflos vorkamen, doch sie beklagten sich nie, immer dieselbe Arbeit tun zu müssen. Dies macht sie zum Beispiel für Fließbandarbeit potenter wie Menschen ohne Behinderungen, welche „verrückt“ werden, wenn sie immer dasselbe tun müssen.
Obwohl es nicht einfach ist, das Geheimnis der versteckten Talenten bei geistig behinderten Menschen zu lüften, kann dies bei RESCU meistens geleistet werden. Bevor ein Arbeiter aufgenommen wird, wird er zwei Wochen bei der Arbeit getestet. RESCU kann alle Arten von Arbeiten anbieten, grobe und feine, leise und laute, dreckige und saubere. Gemeinsam bei allen Arbeiten ist, dass sie dem Arbeiter verdeutlichten, dass er ein Rädchen im Getriebe, also wichtig ist und den anderen helfen muss. Die genaue Beobachtung der Reaktionen der Testperson durch eine Physiotherapeutin und die behinderten Anleiter und der Art, wie die Arbeit geleistet wird, macht schon bald deutlich, wo der behinderte Arbeiter am hilfreichsten und nützlichsten sein kann. Testpersonen, welche sich während dieser zweiwöchigen Phase nicht nützlich machen können, werden bei RESCU nicht eingestellt, weil eine gewisse Produktivität Voraussetzung für die erforderliche Erwirtschaftung von 90 Prozent des Gesamteinkommens ist.
C. Was wäre es wert, nach Europa oder sonstwo übertragen zu werden
'Different abled'
Im Englischen gibt es diesen Begriff als Alternative zu 'disabled'. 'Different abled' meint wörtlich unterschiedlich begabt. Wir alle, ob behindert oder nicht, sind unterschiedlich begabt und gleichwertig. Wie alle Menschen haben auch (geistig) behinderte Menschen das moralische Recht auf eine angemessene Arbeit.
Produkte für Menschen mit Behinderungen produziert von Menschen mit Behinderungen
Die Forderung nach einem Rechtsanspruch, den Markt von Sanitätsartikeln, Rollstühlen, Gehhilfen,
usw. Produzenten mit vorwiegend Behindertenarbeitsplätzen zu überlassen, ist legitim und wäre auch bei uns möglicherweise durchsetzbar. Technisch wäre es auf jeden Fall möglich, dass diese Produkte mit derselben Qualität von Menschen mit Behinderungen ohne Aufpreis hergestellt werden könnten. Operational müsste es möglich sein, dass die Krankenkassen nur solche Produkte ersetzen, welche aus Behindertenwerkstätten kommen, genauso wie sie heute bestimmte Medikamente ersetzen und andere nicht.
Einander helfen
Wenn bekannt ist, dass einander helfen ein tiefes menschliches Bedürfnis ist, müsste es ein leichtes sein, Werkstätten für Menschen mit Behinderungen auf dieses Prinzip umzustellen. Möglicherweise wird diese Methode von einigen Arbeitsanleitern blockiert werden, welche nicht auf die vorgetragene Weise mit behinderten Arbeitern kooperieren wollen. Sicher gibt es auch körperlich behinderte Menschen, welche nicht mit geistig behinderten Arbeitern zusammenarbeiten wollen. Ganz sicher jedoch gibt es genug Arbeitsanleiter, körperlich behinderte Menschen und entsprechende Träger, welche sich gerne auf ein entsprechendes Modellprojekt einlassen wollen, zumal so ein Projekt einen wesentlich höheren Anteil an selbst erwirtschaftetem Einkommen einbringt, als die bisher üblichen Behindertenwerkstätten.