In der Vergangenheit waren in Europa Menschen mit Behinderungen häufig dazu gezwungen, in Großeinrichtungen zu leben. Behindertenorganisationen, Selbsthilfe- und Selbstbestimmungsorganisationen weisen darauf hin, dass dies in einem modernen Europa inakzeptabel geworden ist. Großeinrichtungen isolieren die Bewohner von der Gemeinschaft und dem sozialen Leben. Eine große Anzahl von Berichten beschreibt untragbare Lebensbedingungen und Verletzungen der Menschenrechte und Würde der Bewohner. Trotzdem haben bisher nur wenige Länder Schritte unternommen, um die Politik zu ändern, die behinderte Menschen aus der Gesellschaft ausschließt. Dies stellt bereits eine massive Menschenrechtsverletzung dar.
Alle Mitgliedsländer der Europäischen Union haben sich zum Schutz und der Förderung der Menschenrechte verpflichtet. Die neue Sozialpolitik der Union zielt darauf ab, dass Behindertenfragen in allen Lebensbereichen berücksichtigt werden.
Des Weiteren möchte sie den Ausschluss behinderter Menschen verhindern und die soziale Integration fördern. Es gibt auch viele internationaler und europäischer Gesetze, die Menschenrechte und Grundfreiheiten schützen. Sie sorgen für Schutz vor Freiheitsentzug angemessene Lebensbedingungen, Pflege und Behandlung, individuelle Entwicklungspläne, Schutz vor Schaden sowie das Recht auf Privat- und Familienleben. Obwohl Menschenrechte universell sind, wurden Menschen mit Behinderungen bis vor kurzem nicht als Nutznießer dieser Rechte betrachtet. Zu wenig Aufmerksamkeit wurde den schweren Menschenrechtverletzungen geschenkt, denen sie ausgesetzt sind. Doch nun werden potenzielle Menschenrechtsverletzungen, die durch die Unterbringung behinderter Menschen in Großeinrichtungen entstehen können, zunehmend erkannt und bekämpft.
Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten hat zum Beispiel erst kürzlich entschieden, dass die ungerechtfertigte Isolierung von Menschen mit geistigen Behinderungen in Großeinrichtungen eine Diskriminierung darstellt. Dementsprechend müssen qualitativ hochwertige gemeindenahe Angebote entwickelt werden, basierend auf Grundwerten wie gleichen Bürgerrechten und sozialer Eingliederung. Aus vorhandenen Menschenrechtsbestimmungen ergeben sich fünf Grundvoraussetzungen, die diese Entwicklung unterstützen und fördern: Respekt, Wahlfreiheit, Teilhabe, Unabhängigkeit sowie Verantwortung für behinderte Menschen auf regionaler und lokaler Ebene.
Die Studie, die im Rahmen des Projektes Included in Society durchgeführt wurde, ist der erste Versuch, Einrichtungen für behinderte Menschen in verschiedenen Europäischen Ländern zu vergleichen. Die Ergebnisse sind notgedrungener Weise vorläufig. Trotzdem bietet die Studie eine große Anzahl vergleichbarer Daten und präsentiert ein relativ klares und übereinstimmendes Bild. Die Studie über die Anzahl und Merkmale von Großeinrichtungen in 25 Ländern identifizierte annähernd 2.500 solcher Einrichtungen. Sie zeigt ebenfalls den Mangel an vergleichbaren Daten über institutionelle Angebote für behinderte Menschen in Europa auf.
Die detaillierte Studie über Wohneinrichtungen in Frankreich, Ungarn, Polen und Rumänien zeigt, dass hier die Großeinrichtungen in vielerlei Hinsicht denen ähneln, die bereits in anderen Ländern untersucht wurden. Das Leben der Bewohner ist gekennzeichnet von stundenlanger Passivität, Langeweile und Isolation. Die Anzahl der Mitarbeiter ist zu gering, um Rehabilitationsmaßnahmen und Therapien durchzuführen. Die räumliche Umgebung ist unpersönlich und bietet nicht die Form von Privatsphäre und Gemütlichkeit, die wir allgemein erwarten. Der Kontakt zu Familie, Freunden und der sozialen Gemeinschaft ist sehr begrenzt. In dieser Situation entstehen untragbare Praktiken, wie das tagelange Fesseln ans Bett, oder die Verwendung von Käfigbetten.
Beobachtungen in den Einrichtungen, die während des Projektes gemacht wurden, dokumentieren die Ergebnisse der Studie auf praktischer Ebene. Die Augenzeugenberichte im Bericht liefern eine direkte Dokumentation von Mitarbeiterpraktiken und der Allgemeinsituation. Das allgemeine Bild, das die Studie zeigt ist, dass im Durchschnitt gemeindenahe Angebote bessere Ergebnisse hinsichtlich der Lebensqualität für behinderte Menschen erzielen als große Einrichtungen. Das Ersetzen dieser Einrichtungen durch gemeindenahe Angebote bietet bessere Möglichkeiten, es ist dennoch keine Garantie für bessere Ergebnisse - es ist eine notwendige, aber keine ausreichende Bedingung. Das Erzielen guter Ergebnisse gemeindenaher Angebote ist abhängig von der Qualität der Arbeit der Mitarbeiter.
Die Studie über die rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen von Großinstitutionen zeigt eine Anzahl von Problemen von Dienstleistungsanbietern während des Prozesses hin zu gemeindenahen Angeboten. Um zu erreichen, dass behinderte Menschen als gleichberechtigte Bürger in der Gesellschaft leben, müssen verschiedene Ziele formuliert werden. Diese Ziele beschreiben, welche Bedürfnisse langfristig erfüllt werden müssen. In der Zukunft sollten Menschen mit Behinderungen die gleichen Chancen wie andere Bürger und Bürgerinnen haben, um ihre Rechte ausüben zu können und Teil der Gesellschaft zu sein. Sie sollten Zugang zu hochwertigen gemeindenahen Angeboten als Alternativen zur Pflege in einer Einrichtung haben. Alle Betroffenen und Verantwortlichen sollten an dem Aufbau dieser auf individuellen Bedürfnissen basierenden Angebote beteiligt sein.
Die Prinzipien für eine positive Veränderung bilden das zentrale Element aller Handlungen, die zur Planung, Einrichtung und Überprüfung dieser Angebote nötig sind. Es sollten sowohl Interessenvertretung und Selbstbestimmung als auch die Unterstützung durch Gleichbetroffene sichergestellt und gefördert werden.
Um das Leben in der Gemeinschaft und die Verfügbarkeit von umfassenden und qualitativ hochwertigen gemeindenahen Angeboten für alle behinderten Menschen in Europa zu garantieren, schlägt das Projekt Included in Society die folgenden sechs Maßnahmen vor:
I. Die Entwicklung von Strategien und Aktions plänen für den Aufbau von gemeindenahen Angeboten, die die Menschenrechte Behinderter respektieren und unterstützen. In diesem Zusammenhang müssen Behindertenfragen in alle Politikfelder einbezogen werden, die
UN Standardregeln müssen bestätigt und angewendet werden und das Thema angemessen in die Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte behinderter Menschen aufgenommen werden.
II. Dem Angebot gemeindenaher Dienste für behinderte Menschen in den neuen Mitgliedsländern und den Beitrittsländern muss absolute Priorität gegeben werden.
III. Verpflichtende Modelle zur Qualitätsüberwachung und -sicherung im Rahmen der Konsumentenschutzpolitik müssen entwickelt werden, wie auch zugängliche Beschwerdeverfahren für die Nutzer von Dienstleistungen.
IV. Finanzierungsstrukturen müssen etabliert werden, die sicherstellen, dass Dienstleistungen auf der Basis von individuellen Bedürfnissen angeboten werden.
V. Die Selbstverpflichtung, keine weiteren Großeinrichtungen mehr zu bauen.
VI. Die Gründung der Europäischen Koalition für ein Leben in der Gemeinschaft als Zentrum zur Überwachung und Sicherstellung von gemeindenahen Angeboten. Während die Entwicklung von gemeindenahen Angeboten die Beteiligung vieler verschiedener Entscheidungsträger erfordert, bleiben die nationalen Regierungen für den Aufbau von Angeboten hoher Qualität für alle Bürger und Bürgerinnen verantwortlich. Alle Beteiligten und Verantwortlichen - behinderte Menschen, ihre Angehörigen, Dienstleistungsanbieter, Behindertenorganisationen, nationale und lokale Behörden, wie auch die Europäische Union - sollten eng zusammen arbeiten, um das Ziel eines Aufbaus gemeindenaher Angebote als Alternative zu Großeinrichtungen in Europa zu erreichen.
Die Europäische Union ist dazu aufgerufen, diesen Prozess zu unterstützen, indem sie sich des Themas Großinstitutionen in ihren regelmäßigen Berichten zu den Menschenrechten, der Situation behinderter Menschen und sozialer Isolation annimmt. Sie sollte ebenfalls die Mittel für die nötigen Studien als auch für den Austausch von Strategien und Erfahrungen auf europäischer Ebene zur Verfügung stellen, um ein Angebot hochwertiger gemeindenaher Angebote in ganz Europa sicherzustellen.